In letzter Zeit werde ich oft gefragt, wie eine Freie Privatstadt mit der Corona-Krise umgehen würde. In meinem Konzept einer Freien Privatstadt bietet ein privates Unternehmen als „Staatsdienstleister“ Schutz von Leben, Freiheit und Eigentum. Diese Leistung umfasst innere und äußere Sicherheit, einen Rechts- und Ordnungsrahmen sowie eine unabhängige Streitschlichtung. Die Bewohner zahlen einen vertraglich fixierten Betrag für diese Leistungen pro Jahr. Der Staatsdienstleister als Betreiber kann diesen „Bürgervertrag“ später nicht einseitig ändern. Streitigkeiten zwischen den Vertragsbürgern und dem Staatsdienstleister werden vor unabhängigen Schiedsgerichten verhandelt, wie im internationalen Handelsrecht üblich. Ignoriert der Betreiber die Schiedssprüche oder missbraucht er seine Macht auf andere Weise, wandern seine Kunden ab, und er geht in die Insolvenz. Er hat also ein eigenes wirtschaftliches Risiko und daher einen Anreiz, seine Kunden gut und vertragsgemäß zu behandeln. Näheres hier.
Lassen Sie mich nun eine Antwort auf die Eingangsfrage geben, aber bedenken Sie, dass verschiedene Stadtbetreiber zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen könnten. Der „Wettbewerb als Entdeckungsverfahren“ (Friedrich August von Hayek) würde auch hier seine segensreiche Wirkung tun.
Zunächst einmal hätte eine Freie Privatstadt eine Klausel im Bürgervertrag, die bestimmt, dass in Notfällen wie Kriegen oder Naturkatastrophen (dazu gehören auch Epidemien) der Stadtbetreiber besondere Rechte zur Kontrolle des öffentlichen Lebens hat. Wie immer in einem rein vertraglichen System können die Bewohner vor einem unabhängigen Schiedsgericht anfechten, dass ein solcher Tatbestand gegeben sei. Die Vertragsbürger könnten behaupten, dass COVID-19 nicht wirklich eine Epidemie sei, da nicht schlimmer als eine schwere Grippe, oder dass bestimmte Maßnahmen unangemessen oder nutzlos seien und so weiter.
Es gilt das Verhältnismäßigkeitsprinzip
Hier würde ich als Privatstadtbetreiber argumentieren, dass eindeutige Indizien vorliegen, wonach COVID-19 tatsächlich eine gefährliche Pandemie ist, da definierte Bevölkerungsgruppen (etwa auf Kreuzfahrtschiffen oder in norditalienischen Städten) viel höhere Sterblichkeitsraten aufweisen als sonst während einer Grippesaison. Für die Region Bergamo gibt es jetzt Zahlen: Im März 2020 sind dort etwa 5.400 Menschen gestorben, in den Märzmonaten 2015-2019 waren es jeweils etwa 1.000. Auch auf Kreuzfahrtschiffen stirbt mal jemand, aber nicht drei oder vier gleichzeitig. Und in Italien sind bereits 61 behandelnde Ärzte verstorben, auch davon hat man aus früheren Grippezeiten nichts gehört. Und erfahrene Pandemie-Experten, etwa aus Südkorea, sprechen davon, dass hier eindeutig ein gefährliches Virus vorliegt, das schwerer als SARS oder MERS zu beherrschen sei.
Nichts zu tun, würde daher Leib und Leben der Vertragsbürger gefährden, das der Betreiber zu schützen vertraglich verpflichtet ist. Dafür zahlen diese und haben gegebenenfalls einen Schadensersatzanspruch gegen den säumigen Betreiber. Auch würde Nichtstun das gesamte Gesundheitssystem zum Nachteil aller Kranken überlasten. Dies rechtfertigt, dass die Notfallklausel prinzipiell anwendbar ist. Ich vermute stark, dass ein angerufenes Schiedsgericht dieser Ansicht folgen würde. Nehmen wir an, das sei der Fall.
Das würde nun bedeuten, Maßnahmen zu ergreifen, die wirksam sind, aber die geringsten negativen Auswirkungen auf die Bewohner haben (Verhältnismäßigkeitsprinzip). Dies bedeutet etwa eine Kontrolle an den Grenzen für alle Neuankömmlinge einschließlich der aus dem Ausland zurückkehrenden Bewohner. Sie würden getestet und bei positivem Ergebnis beziehungsweise während der Inkubationszeit von 14 Tagen in Quarantäne gehalten. Das ist mehr oder weniger zwingend, denn sonst sind wirksame Maßnahmen innerhalb der Stadt nicht möglich.
Offene Diskussionsveranstaltung über Maßnahmen
Unmittelbar nach Einführung des Notstandsregimes hätte die Stadt einen Krisenstab eingesetzt, der so viele Informationen wie möglich sammeln würde. Er würde die Entwicklung in der übrigen Welt sorgfältig verfolgen und nachahmen, was anderswo funktioniert, und vermeiden, was nicht funktioniert. Die Stadt würde auch die Bewohner um Ideen und Ratschläge bitten, auch wenn diese im Gegensatz zur Ansicht des Stadtbetreibers stehen. Vermutlich würde eine offene Diskussionsveranstaltung stattfinden, um neue und möglicherweise bessere Ideen zu entdecken. Der Krisenstab würde die Vertragsbürger mittels der CityApp über neue Behandlungen, Medikamente und andere Ideen zum Schutz der eigenen Person informieren, wie diese hier.
Eine vollständige Eindämmung durch Unterbindung des öffentlichen Lebens wäre freilich die letzte Eskalationsstufe. Zuvor würde der Stadtbetreiber Risikogruppen identifizieren und sie anweisen, soziale Kontakte zu vermeiden. Nur wenn dies nicht funktioniert, würde er eine vollständige Kontaktsperre und entsprechende Verhaltensregeln anordnen. Gleichzeitig würde die Stadt zusätzliche Beatmungsgeräte, Masken und so weiter kaufen. Wie in meinem Buch beschrieben, sollten Freie Privatstädte eine Rückstellung für Naturkatastrophen gebildet haben. Diese könnte in solchen Fällen genutzt werden.
Gleichzeitig würde die Stadt versuchen, so viele Menschen wie möglich zu testen. Da es sich bei einer Freien Privatstadt typischerweise um ein eher kleines Gebiet handelt, könnte sie leicht Gebiete mit unterschiedlichen Eindämmungszuständen definieren und dann die jeweiligen Ergebnisse testen und schnell reagieren.
Unterschiede zu staatlichem Handeln
Bislang unterscheidet sich dies nicht wesentlich von dem, was wir in der realen Welt gesehen haben. Es gibt jedoch einige gewichtige Unterschiede:
Da die Freien Privatstädte Orte sind, an denen man für sich selbst verantwortlich ist, wäre jeder frei, Medikamente auszuprobieren, die verfügbar sind und helfen könnten. Dies würde jedoch auf eigenes Risiko geschehen und zu den Bedingungen der privaten Krankenversicherung oder der Selbsthilfegruppe auf Gegenseitigkeit (man könnte den Versicherungsschutz verlieren). Daneben können alle Marktteilnehmer in der Stadt aufgrund der geringen Regelungsdichte die Produktion von in der Krise nachgefragten Gütern sofort aufnehmen. Innerhalb der Stadt wird es daneben größere private Wohnbereiche geben, die frei sind, eigene Regeln aufzustellen, die entweder strenger oder weniger streng sind als die der Stadt, solange die jeweiligen Bewohner innerhalb dieser Bereiche verbleiben.
Außerdem könnten die Preise wichtiger Güter (wie Atemschutzmasken) steigen, ohne dass dies als „Wucher“ oder „unmoralischer Profit“ verboten würde. In der Folge kann das Angebot dort steigen, wo die höchsten Gewinne erzielt werden, sodass die Nachfrage schneller befriedigt werden kann. Gegen dieses Marktprinzip vorzugehen, ist zwar in Krisenzeiten populär, aber kontraproduktiv. Ein solches Ansinnen entspricht in seinem Erkenntnisgrad dem mittelalterlichen Zinsverbot.
Die Sterblichkeits- und Infektionsrate würde überwacht, und wenn der Betreiber herausfindet, dass die Infektionsrate stabil oder rückläufig ist, oder die Sterblichkeitsrate nicht oder nur geringfügig höher als üblich, könnten die Ausgangsbeschränkungen ganz oder teilweise aufgehoben werden.
Ständige Überprüfung der Maßnahmen
Außerdem – und dies wäre eine weitere Besonderheit der Freien Privatstädte – würden diverse Vertragsbürger wahrscheinlich ständig Schiedsverfahren gegen die Maßnahmen des Betreibers einleiten, da sich die Situation und die verfügbaren Informationen ständig ändern. Denn der Betreiber ist seinen Vertragspartnern auch schadensersatzpflichtig, wenn er schuldhaft deren Freiheit oder Vermögenswerte beeinträchtigt. Er ist in einer schwierigen Situation. Tut er nichts, klagen die Angehörigen der Toten gegen ihn, tut er zu viel, klagen die Vertragsbürger auf Schadensersatz wegen der Freiheits- und Vermögensverluste. Verliert er solche Prozesse, kann dies erhebliche wirtschaftliche Konsequenzen für den Betreiber haben. Das zwingt ihn andererseits dazu, stets abzuwägen, jeweils auf dem neuesten Stand zu bleiben und nicht fahrlässig geeignete Maßnahmen wie die Beschaffung von Masken oder Tests zu unterlassen.
Das ist das genaue Gegenteil von Politikern, denen schlimmstenfalls droht, dass sie – unter Beibehaltung sämtlicher Pensionsansprüche – abgewählt werden. Schauen wir uns deren anders gelagerte Anreize an. Es geht auch Politikern zunächst einmal um ihre eigenen Interessen. Also darum, wiedergewählt zu werden und Macht und Versorgungsansprüche zu behalten. Das ist menschlich und soll hier nicht vorgeworfen werden. Der Fehler liegt im System. Politiker haben keinen Anreiz, schwierige Abwägungsentscheidungen zu treffen, weil es reicht, den Eindruck zu erwecken, mit Entschlossenheit dem Gemeinwohl zu dienen.
Kein Regierungspolitiker würde daher die Ausgangsbeschränkungen zu früh beenden und dann Menschen sterben lassen. Denn diese Toten sieht man in den Medien, wogegen die negativen Folgen der Ausgangsbeschränkungen (Insolvenzen, häusliche Gewalt, Depressionen) nicht unmittelbar sichtbar sind. Im Medienzeitalter geht es nur um den Eindruck. Und die Erfahrung hat wieder und wieder gezeigt, dass mit Unterstützung der Medien noch die größte Fehlleistung als von moralischen Motiven getragen dargestellt werden kann. Auch finanzielle Schäden für Staat und Gesellschaft sind von untergeordnetem Interesse, denn die Politik hat mit dem faktisch beliebig ausweitbaren Besteuerungsrecht jederzeit eine kostenlose Call-Option auf das Vermögen der Bürger.
Stattdessen besteht der Anreiz, möglichst aggressive Maßnahmen anzuordnen, um den Eindruck zu erwecken, nur so könne man die Menschen vor etwas Furcht erregendem schützen. Welcher Politiker tritt nicht gerne im Fernsehen auf, flankiert von wichtig klingenden Menschen und redet darüber, was er tut, um die Bürger zu schützen, während er gleichzeitig kostenlose Staatsbeihilfen verspricht? Krisen sind die Stunde der Exekutive. Es ist der beste kostenlose Wahlkampf, den sich ein Amtsinhaber vorstellen kann. Insofern Hut ab vor Schweden. Mal sehen, wie lange sie durchhalten.
Kein Wundermittel, aber flexibler
Zurück zur Freien Privatstadt: Hier wird der Betreiber oder das Schiedsgericht irgendwann zu der Schlussfolgerung kommen, dass bestimmte Notfallmaßnahmen nicht mehr gerechtfertigt sind oder es überhaupt keine relevante Notlage mehr gibt. Das Beispiel veranschaulicht, wie wichtig ein funktionierendes, erschwingliches und schnelles (Schieds-)Gerichtssystem ist. Entsprechend hätte der Betreiber bei einem erneuten Anstieg der Todesrate das Recht, wieder Beschränkungen zu veranlassen. Dies ist praktisch der Ansatz, den Singapur verfolgt. Der Stadtstaat hat frühzeitig reagiert, konnte dadurch die vollständige Schließung vermeiden und hat am 23. März die Schulen wieder geöffnet.
Wie immer in solchen Situationen ist eine Abwägung zu treffen. Es gibt keine eindeutig richtige oder falsche Reaktion. Die Wirtschaftseinbrüche sind zweifellos katastrophal, aber eher linear: kumulierte Einnahmeausfälle. Die Einschränkung der persönlichen Freiheit ist schwerwiegend, aber vorübergehend. Die Alternative, wenn die Eindämmung nicht solange gelingt, bis Therapien oder Impfungen verfügbar beziehungsweise die Krankenhauslast zu bewältigen ist, sieht nach aktuellem Wissensstand so aus: eine exponentiell wachsende Zahl an Menschen, die bei vollem Bewusstsein einen langsamen Erstickungstod erfahren.
Dieses Wissen muss freilich ständig mit der Realität abgeglichen werden. Ist die Pandemie doch nicht so gefährlich wie vermutet oder sind andere Strategien erfolgversprechender, dann müssen die Beschränkungen wieder aufgehoben oder angepasst werden. Denn eine vollständige Kontakt- oder Ausgangssperre über mehrere Monate hinweg würde die gesamte Wirtschaft und damit ebenfalls das Wohlergehen der Bewohner gefährden. Und wenn tatsächlich nur wenig mehr Menschen mehr sterben als in einer normalen Grippesaison, wäre dieser Preis zu hoch. Irgendwann wird jemand diese Entscheidung treffen müssen, und das wird entweder der Betreiber oder das Schiedsgericht sein.
Insgesamt bleibt festzuhalten: Freie Privatstädte haben auch kein Wundermittel gegen eine Pandemie, sie würden aufgrund ihrer andersartigen Anreizstruktur aber aller Voraussicht nach schneller, flexibler und damit auch angemessener reagieren als unsere Staaten. Die Normalität wäre früher wiederhergestellt.
Dieser Beitrag erschien zuerst beim Ludwig von Mises Institut Deutschland.
Titus Gebel ist Unternehmer und promovierter Jurist. Er möchte mit Freien Privatstädten ein völlig neues Produkt auf dem „Markt des Zusammenlebens“ schaffen, das bei Erfolg Ausstrahlungswirkung haben wird. Zusammen mit Partnern arbeitet er derzeit daran, die erste Freie Privatstadt der Welt zu verwirklichen. Er ist Autor des Buches „Freie Privatstädte – Mehr Wettbewerb im wichtigsten Markt der Welt“.