Am Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen wird die polnische Regierung ihre Forderung nach Reparationen für die durch Nazideutschland angerichteten Kriegsschäden erneuern, während Deutschland die üblichen Schuld-Plattitüden wiederholen wird. Ein besseres Geschichtsverständnis beider Länder würde ihr Verhältnis deutlich entspannen.
Rund um den 1. September wird sich auf beiden Seiten der Oder ein unwürdiges Schauspiel mit zwei Akteuren wiederholen. Die rechtskonservative PiS-Regierung in Polen wird ihre im vorigen Jahr erstmalig offiziell erhobene Forderung nach Reparationen für die durch Nazideutschland angerichteten Kriegsschäden erneuern, deren Höhe mit Hilfe bestellter Gutachten auf 1,3 Billionen Euro beziffert wurde. Tenor der dortigen Diskussion: Die Deutschen sollen endlich für ihre Verbrechen bezahlen! Darauf wird die Bundesregierung wieder mit allerlei Floskeln verbaler Zerknirschung reagieren (Außenministerin Baerbock nach dem 1. September 2022: „Es bleibt unsere ewige Aufgabe, an das millionenfache Leid zu erinnern, das Deutschland Polen angetan hat“), um dann die eigentliche Antwort in einem dürren Satz hinterherzuschieben: dass aus deutscher Sicht die Frage nach Reparationen rechtlich geklärt und abgeschlossen sei.
Beispiellose Verbrechen und deren Folgen
Der von historischem Wissen unbelastete Betrachter dieses Rituals muss den Eindruck gewinnen, der Zweite Weltkrieg sei soeben zu Ende gegangen, und Polen werde sich erst jetzt des Unrechts bewusst, das ihm von Deutschland zugefügt wurde und das bisher in keiner Weise gesühnt worden sei. Ist das wirklich so? Gehen wir kurz zurück in die Geschichte. Was sich in den Jahren 1939 bis 1944 im von den Deutschen besetzten Polen abspielte, war in der Tat beispiellos: Gerade einmal zwanzig Jahre nachdem es nach der langen Zeit der Teilungen wiedererstanden war, hörte Polen auf zu existieren. „Polen: ehemaliger Freistaat an der Ostgrenze Deutschlands“ heißt es lakonisch im Brockhaus von 1940.
Erst wurden die westlichen Randgebiete annektiert (und damit die territorialen Verluste des Versailler Vertrages mehr als revidiert), dann wurde aus dem Rest das sogenannte „Generalgouvernement“ gebildet, eine Art Kolonie, in der Polen nurmehr als ungebildete Arbeitskräfte geduldet waren und mittelfristig deutschen Siedlern weichen sollten (wofür die gemäß Hitler-Stalin-Pakt zwangsausgesiedelten Balten- und Bessarabiendeutschen herhalten mussten). Polnische Ortsnamen wurden germanisiert, die Nazipropaganda log einen „urdeutschen“ Charakter der eroberten Gebiete herbei. Nicht zuletzt entstanden auf polnischem Boden die Vernichtungslager, mit denen das NS-Regime seine „Endlösung der Judenfrage“ organisierte.
Apropos Stalin: Eine Woche vor dem deutschen Angriff auf Polen hatten das Deutsche Reich und die Sowjetunion einen Nichtangriffspakt geschlossen, der in einem geheimen Zusatzprotokoll die gegenseitigen Interessensphären absteckte: Hitler beanspruchte die westliche, Stalin die östliche Hälfte Polens sowie das Baltikum und Bessarabien. Als der deutsche Sieg absehbar war, rückte die Rote Armee in Ostpolen ein, um es kurz darauf zu annektieren. Auch dort wurde ein Terrorregime installiert, auch dort wurde die polnische Intelligenz ermordet oder deportiert, zudem wurden die dort lebenden Ethnien – etwa 40 Prozent Polen und jeweils 30 Prozent Ukrainer und Weißrussen zwecks kommunistischer Herrschaftssicherung gegeneinander aufgehetzt.
Ewige Feindschaft zwischen Polen und Deutschen stiften
Das ist deshalb wichtig, weil Stalin bei Kriegsende seine aus dem Pakt mit Hitler gemachte Beute nicht wieder herausrücken wollte. Der Osten Polens blieb Teil der Sowjetunion. Dafür sollte Polen auf Kosten Deutschlands entschädigt werden. Dass ihm Oberschlesien, Masuren und Danzig zufallen würden, die historische Verbindungen zu Polen hatten, war allgemeiner Konsens und wurde auch von der polnischen Exilregierung in London unterstützt, welche dafür allerdings keinesfalls auf die eigenen Ostgebiete rund um Lemberg und Wilna verzichten wollte. Stalins Pläne gingen jedoch viel weiter. War er sich eben noch mit Hitler einig gewesen, Polen von der Landkarte zu tilgen, wollte er das Land nun nach Westen „verschieben“, unter Einschluss riesiger Gebiete, die großenteils seit mehr als 700 Jahren von Deutschen bewohnt waren (Hinterpommern, Ostbrandenburg, Niederschlesien).
Sein Kalkül: mit der Übereignung des gesamten deutschen Ostens ewige Feindschaft zwischen Polen und Deutschen zu stiften und das kommunistische Polen dauerhaft von dessen Garantiemacht Sowjetunion abhängig zu machen. Mit dem maximalen Umfang der Westverschiebung Polens bis an die Lausitzer Neiße (statt der zuerst anvisierten Grenzziehung an der 200 Kilometer weiter östlich gelegenen Glatzer Neiße) sowie unter Einschluss der überwiegend westlich der Oder gelegenen Großstadt Stettin) kam er zudem Forderungen polnischer Nationalisten entgegen, die die kürzestmögliche Grenzlinie zwischen Sudeten und Ostsee gefordert hatten.
Fazit: Auf das größte Verbrechen der Neuzeit, begangen von Deutschen, folgte die größte ethnische Säuberung der Geschichte, die – allein auf die deutschen Ostgebiete bezogen – rund 9 Millionen Menschen umfasste, welche entweder 1945 vor der heranrückenden Front flüchteten oder bis 1947 von der neu eingesetzten polnischen Verwaltung vertrieben wurden. Etwa eine halbe Million Deutsche kamen dabei ums Leben.
Kein schlechter Tausch
Begleitet wurde die Übernahme rein deutscher Gebiete von einer groben Geschichtsverfälschung, die der der NS-Propaganda nicht nachstand. Hatte diese die Annexion polnischen Bodens mit in grauer Vorzeit dort siedelnden Germanenstämmen gerechtfertigt, beriefen sich die polnischen Kommunisten mit ihrer Konstruktion der „Wiedergewonnenen Gebiete“ und der „Rückkehr zum Mutterland“ nun auf die 900 Jahre zurückliegende Piastenherrschaft, also auf die Zeit vor der deutschen Ostsiedlung, somit auf eine Phase, als sich „Deutsche“ und „Polen“ als Völker gerade erst konstituiert hatten und das Heilige Römische Reich im Westen und Süden auch die Niederlande, Burgund, die Schweiz, Oberitalien und Böhmen umfasste (dies sei angemerkt, um die Absurdität solcher „historischen“ Rechtfertigungen schlichter Kriegseroberungen aufzuzeigen). Nach der Vertreibung der alteingesessenen Bevölkerung wurden sämtliche Orts- und Flurnamen polonisiert, Inschriften an Häusern weggemeißelt, Friedhöfe planiert, die Spuren jahrhundertelanger deutscher Prägung beseitigt, so gründlich es nur ging. Frei nach Orwell, sollten die neuen Westgebiete schon immer „urpolnisch“ gewesen sein.
Die eigenen sehr heterogenen, multiethnischen Ostgebiete (die Städte polnisch, das Land ukrainisch/weißrussisch geprägt), die Polen erst 1921 im Krieg gegen Sowjetrussland erobert hatte, gegen den neuen „Wilden Westen“, leergeräumt von seinen bisherigen Bewohnern (bis auf einige hunderttausend angeblich „zwangsgermanisierter“ Oberschlesier und Masuren, die aufgrund ihrer systematischen Diskriminierung später massenweise in die Bundesrepublik emigrierten), zivilisatorisch und infrastrukturell hochentwickelt – das war alles andere als ein schlechter Tausch, was den polnischen Machthabern natürlich bewusst war. Deshalb hatten sie nichts Eiligeres zu tun, als sich 1950 in Görlitz den neuen Grenzverlauf von der DDR bestätigen zu lassen.
Die Sowjets selbst, die den „Deal“ eingefädelt hatten, sahen offenbar mit der bloßen Übergabe der deutschen Ostgebiete an Polen das Thema Reparationen als erledigt an, so der Breslauer Historiker Jerzy Maron. Dass die polnische Seite die Annexion der „Wiedergewonnenen Gebiete“ mit ihrem enormen wirtschaftlichen Potential sehr wohl ebenfalls als eine Art von Reparationen betrachtete, ist daran zu ersehen, dass in den ersten Nachkriegsjahren dort jede Menge Industrieanlagen und Baumaterialien demontiert und nach Zentralpolen geschafft wurden.
Ein unausgesprochenes Junktim
Ein unbestrittener Fakt ist der ausdrückliche Verzicht auf Reparationszahlungen durch die polnische Regierung 1953, der 1970 bei der Unterzeichnung des Warschauer Vertrages auch noch einmal gegenüber der Bundesrepublik bekräftigt wurde. Außerdem wurde bei der Potsdamer Konferenz 1945 vereinbart, dass Polen deutsche Reparationen nur über die Sowjetunion, also aus der sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, erhalten werde. Da dies 1953, auch wegen des Volksaufstandes vom 17. Juni, gestoppt wurde, wäre formal gesehen die Sowjetunion beziehungsweise die Russische Föderation als deren Rechtsnachfolger der richtige Adressat für die polnischen Forderungen gewesen.
Mit der Unterzeichnung des 2-plus-4-Vertrages von 1990 sowie des „Vertrages über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“ 1991 zwischen dem vereinigten Deutschland und der Republik Polen war das Thema Reparationen dann endgültig vom Tisch – und zwar durch seine bloße Nichterwähnung. Hätte Polen Forderungen gehabt, wäre dies der letztmögliche Zeitpunkt gewesen, solche zu erheben. 2004 bekräftigte Polens damaliger Regierungschef die Gültigkeit der polnischen Verzichtserklärung von 1953: Für Reparationen gebe es weder rechtliche noch politische Grundlagen.
Auch wenn ein Zusammenhang zwischen Reparationen und der Übernahme der deutschen Ostgebiete stets bestritten wurde und letztere immer als bloße Kompensation für den Verlust der polnischen Ostgebiete dargestellt wurde, gab und gibt es ein unausgesprochenes Junktim zwischen der endgültigen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, die nach dem Wortlaut des Potsdamer Abkommens lediglich die „polnische Verwaltung“ deutscher Gebiete markierte und dem Verzicht auf Reparationen. Dieser Zusammenhang ist nicht nur psychologischer Natur, wie unzählige Leserbriefe und Userkommentare unter deutschen wie polnischen Artikeln zum Thema Reparationen belegen – offenbar wird in den Bevölkerungen auf beiden Seiten der Oder die Abtretung der deutschen Ostgebiete als „Preis“ für Hitlers Angriffskrieg wahrgenommen und auch als solcher akzeptiert –, sondern er hat handfeste politisch-juristische Implikationen: denn die Forderung der PiS nach Reparationen mit der Begründung, der damalige polnische Verzicht sei ungültig, zieht die gesamte europäische Nachkriegsordnung einschließlich der polnischen Grenzen in Zweifel, wie Klaus Bachmann in einem langen und sachkundigen Artikel belegt.
Es wäre besser gewesen, alle Beteiligten hätten es beim Stand von 2004 belassen, zumal Polen in jenem Jahr der Europäischen Unon beitrat, mit massiver Unterstützung der deutschen Politik.
Die genannten Fakten hinderten die neue rechtskonservative Regierung nicht daran, das alte Fass 2017 wieder aufzumachen, als Wahlkampfthema und Retourkutsche gegen Erklärungen der – von der PiS als von Deutschen dominiert angesehenen – EU-Kommission sowie entsprechende Aktivitäten des Europäischen Gerichtshofes, um polnische Gesetze zur geplanten Justizreform für rechtswidrig zu erklären. Der 1953 erklärte Verzicht auf Reparationen sei ungültig, so die PiS, denn er sei nicht aus freien Stücken erfolgt, sondern auf sowjetischen Druck zustande gekommen. Im Übrigen sei Polen bis 1989 kein souveräner Staat gewesen. Wenn man von dieser Prämisse ausgeht – auch darauf weist der Breslauer Historiker Jerzy Maron hin – dann wären alle zwischen 1945 und 1989 erlassenen polnischen Gesetze und Dekrete ungültig, mit unabsehbaren Konsequenzen im nationalen und internationalen Recht.
Ein „Angebotspreis“?
Wer den Reparationsverzicht von 1953 in Frage stellt, zieht zugleich die Ergebnisse der Potsdamer Konferenz von 1945 und damit die gesamte europäische Nachkriegsordnung in Zweifel, sagen auch die meisten Völkerrechtsexperten. Weil dies die PiS-Regierung weiß, übt sie vor allem „moralischen“ Druck aus und appelliert weniger an die deutsche Politik als vielmehr an die dortige „Zivilgesellschaft“, wohl wissend, wie empfänglich diese für pauschale Anklagen und Schuldzuweisungen ist.
So bezeichnete Arkadiusz Mularczyk, PiS-Mitglied und Regierungsbeauftragter für das Thema Reparationen, im Interview mit der WELT die polnische Forderung als „Angebotspreis“ und kündigte an, einen umfassenden Dialog mit „allen politischen Formationen“ in Deutschland führen und vor allem ein entsprechendes Bewusstsein in der deutschen Bevölkerung wecken zu wollen. Auch eine Gruppe interessierter Anwälte habe sich bereits bei ihm gemeldet.
Bezeichnenderweise erwähnen auch in diesem ausführlichen Interview weder der Fragesteller noch der Befragte die einhellige juristische Auffassung zur Nichtigkeit von Reparationsforderungen noch den „Elefanten im Raum“: die abgetretenen Ostgebiete. Stattdessen verweist Mularczyk auf die Kollektivschuld „der Deutschen“ („Sie wussten von den Kriegsverbrechen und den Vernichtungslagern… haben geraubt, gemordet und Hitler unterstützt, solange sie vom System profitiert haben.“)
„Die Reparationsfrage ist abgeschlossen“
Dabei legt er sich die Fakten nach Belieben zurecht. So erwähnt er etwa das Interview des Polen-Beauftragten der Bundesregierung Dietmar Nietan mit einer polnischen Zeitung und schließt daran den Satz an: „Das Interview […] hat mir vor Augen geführt, dass ein Teil der politischen Klasse in Deutschland das Thema Wiedergutmachung nicht für abgeschlossen hält und an einem echten Dialog interessiert ist.“
Liest man dann jedoch nach, was Nietan in dem zitierten Interview gesagt hat, stößt man auf das folgende Statement, das an Klarheit nichts zu wünschen übrig lässt: „Die Position der Bundesregierung ist unverändert, die Reparationsfrage ist abgeschlossen. Verschiedene polnische Regierungen haben den Verzicht auf Reparationen mehrfach bestätigt. Dies ist eine wesentliche Grundlage für die heutige Ordnung Europas. Und ich bin überzeugt, dass die polnischen Politiker, die die Studie über die Kriegsverluste Polens in Auftrag gegeben haben, sich dessen von Anfang an bewusst waren.“
An diesem WELT-Interview wird überdeutlich, dass die PiS versucht, sich die Amnesie der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft und Politik zunutze zu machen. Diese weiß weder etwas von Polen noch vom alten deutschen Osten und was sie mit diesem an Menschen, Landschaften, kulturellen und geistigen Horizonten sowie Brücken zu Polen, Litauen oder Russland verloren hat. Deshalb ist sie anfällig für das Narrativ der PiS, Deutschland habe die von ihm in Polen begangenen Verbrechen weder aufgearbeitet noch für sie „bezahlt“.
Und die deutsch-polnische Aussöhnung?
Noch zu Helmut Kohls Zeiten war die Kommunikation zwischen Polen und Deutschen eine völlig andere: von Freundschaft, Verständigung, Neubeginn und der historischen Versöhnung zwischen beiden Völkern und Ländern war allenthalben die Rede. Was hat sich geändert? Die Generation, die den Krieg noch selbst erlebt hat (Skubiszewski, Mazowiecki, Kohl) und die das, was bis zum deutsch-polnischen Vertrag von 1991 erreicht wurde, schätzen konnte, ist abgetreten. Ihre Stellen haben geschichtslose Bürokraten und Populisten eingenommen, denen Machterwerb und Machterhalt über alles geht.
Natürlich hat auch die unkritische Russlandpolitik der Regierung Merkel, die sich kalt lächelnd über alle polnischen Bedenken hinwegsetzte, zur Verschlechterung der Beziehungen beigetragen. Merkels Sonderweg der offenen Grenzen, verbunden mit Vorwürfen gegen europäische Länder, die dabei nicht mitziehen wollten, löste parteiübergreifend in Polen Kopfschütteln aus. Man ist dort aus verständlichen Gründen allergisch gegen moralische Mahnungen und Belehrungen aus Deutschland, die zudem in der Regel in grober Unkenntnis der polnischen Mentalität, Kultur und Geschichte geäußert werden. Dies alles mag dazu beigetragen haben, dass die polnischen Rechtskonservativen sich so auf Deutschland eingeschossen haben. Die antideutsche Einstellung der PiS und insbesondere ihres Vorsitzenden Jaroslaw Kaczynski war allerdings schon vorher manifest.
Kaczynskis negative Fixierung auf den westlichen Nachbarn äußert sich in permanenten Warnungen vor deutscher Dominanz und Einflussnahme. Deutschland wolle mit friedlichen Mitteln die Pläne verwirklichen, die es militärisch nicht habe erreichen können, behauptete er vor einem halben Jahr öffentlich, ja es strebe gar mithilfe der EU ein „Viertes Reich“ an. Als an der Fassade eines Eisenbahnstellwerks in Masuren der ehemalige deutsche Ortsname freigelegt wurde und der zuständige Konservator die historische Inschrift bewahren wollte, schaltete sich aus Warschau Kaczynski ein und nutzte die Provinzbagatelle, um unter der Landbevölkerung Ängste vor einer Rückkehr der Deutschen zu rühren. Kürzlich behauptete er, Passagiere der Deutschen Bahn hätten den Schaffner aufgefordert, mitreisende polnische EU-Abgeordnete hinauszuwerfen, weil Polen nicht das Recht hätten, erste Klasse zu fahren. Jeden Beleg für diesen Vorfall blieb er schuldig.
Innenpolitische Gegner wie der ehemalige Regierungschef Donald Tusk, heute Vize-Chef der größten Oppositonspartei Bürgerplattform und Spitzenkandidat für die Parlamentswahlen im Oktober 2023 werden über den Staatssender TVP hemmungslos und mit primitiv gefälschten Videoschnipseln (in denen er auf Deutsch „Für Deutschland“ sagt) als deutsche Agenten hingestellt. Die PiS als Partei der doppelten Maßstäbe schafft es, in einem Atemzug die angebliche Diskriminierung der polnischen Minderheit in der Ukraine zu beklagen, die sowieso schon arg gebeutelte und immer kleiner werdende deutsche Minderheit in Oberschlesien als „fünfte Kolonne“ zu diffamieren und obendrein Entschädigungsansprüche jüdischer Verbände für nach dem Krieg enteignete polnische Juden rüde zurückzuweisen.
Strategie der Ignoranz
Doch anstatt den Forderungen der PiS-Vertreter mit inhaltlichen Argumenten entgegenzutreten, den polnischen Partnern damit zu signalisieren: „Wir nehmen euch ernst“, wählt die deutsche Politik seit Jahren eine Strategie der Ignoranz. Die üble antideutsche Stimmungsmache im Wahlkampf wird entweder gar nicht oder sehr distanziert kommentiert, als ginge es die Deutschen nichts an, wenn die Regierungspartei ihres wichtigsten und größten östlichen Nachbarlandes die Negativstereotypen des 19. Jahrhunderts wiederbelebt und alles negiert, was an deutsch-polnischer Aussöhnung in den fast 80 Jahren seit Kriegsende gewachsen ist. Dazu gehörten unter anderem:
- die Integration von Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen in die deutsche Nachkriegsgesellschaft
- der Brief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder 1965 („Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung“)
- die Basisarbeit der kirchlich initiierten „Aktion Sühnezeichen“ in Gedenkstätten in Polen seit den sechziger Jahren
- die von Willy Brandt initiierten Ostverträge und sein Kniefall vor dem Denkmal des Warschauer Ghettos in Warschau 1970
- die Paketaktionen der deutschen Kirchen für die notleidende polnische Bevölkerung nach Ausrufung des Kriegsrechts in Polen 1981
- die kontinuierliche Verständigungsarbeit der Deutsch-Polnischen Gesellschaften in beiden Ländern
- unzählige private und regionale Initiativen zur Bewahrung des kulturellen deutschen Erbes in Polen
- die Brückenfunktion der deutschen Minderheit in Polen und der 2 bis 3 Millionen Menschen in Deutschland, die ihre Wurzeln in Polen haben (Spätaussiedler, Migranten und Arbeitnehmer)
Das deutsche Unverständnis
Von deutscher Seite aus wäre es so wichtig, bei den alljährlich wiederkehrenden Gedenktagen anlässlich des Kriegsbeginns nicht nur die immergleichen verbalen Schuld- und Reuefloskeln abzulassen, die nichts kosten, nichts bringen und in Polen heuchlerisch wirken, sondern den polnischen Gesprächspartnern klarzumachen, dass es in den beiderseitigen Beziehungen nicht hinter das bis 1991 Erreichte zurückgeht!
Vielleicht gehört zur Wahrheit aber auch, dass das offizielle Deutschland Polen immer noch den Rücken zukehrt, was das Wüten der polnischen Rechtskonservativen auf schräge Weise nachvollziehbar macht. Das fängt damit an, dass die Zugverbindungen von Deutschland nach Polen schlechter sind als vor 30 Jahren und endet noch lange nicht mit der hartnäckigen Unkenntnis polnischer Konsonantenverbindungen (etwa dass polnische Nachnamen auf „icki“ wie „itzki“ ausgesprochen werden), wo doch oft dieselben Politiker peinlich auf „korrekte“ Aus- und Ansprache bedacht sind. Polen wünsche sich eine Partnerschaft auf Augenhöhe, sagt der in Stettin geborene CDU-Abgeordnete Paul Ziemiak, Vorsitzender der deutsch-polnischen Parlamentariergruppe. Es fehle manchmal an Zeichen dafür, dass deutsche Regierungen Polen ernstnähmen.
Der 2019 verstorbene Publizist Arnulf Baring erzählte einmal von einem Gespräch, das er mit dem polnischen Historiker Krzysztof Wojcicki geführt hat. Die Deutschen, so Woycicki, hätten in Ostmitteleuropa alles verloren, „was sie infolge jahrhundertelanger friedlicher kultureller Expansion erreicht hätten … weil sie die Bedeutung dieser Region jeweils nur vom eigenen Standpunkt aus betrachtet und daher nicht erfasst haben. So haben sie immer wieder nach Lösungen gesucht, die diese Region ihrer Selbständigkeit und Selbstbestimmung beraubten. Sie sollten sich die Frage stellen, wie es eigentlich dazu kam, dass Polen, ein scheinbar schwaches Volk in einer hoffnungslosen Lage, infolge zweier Kriege, die es gar nicht gewonnen, sondern in denen es gigantische Verluste erlitten hatte, zu einem Drittel sein Domizil in ehemals deutschen Gebieten wiederfand. Bei der Suche nach einer Antwort treffe man zwangsläufig auf den Gedanken, dass eine der wichtigsten Ursachen der deutschen Niederlagen das Unverständnis der Deutschen für die Bedeutung ihrer unmittelbaren östlichen Nachbarn, vor allem für Polen war“.
Oliver Zimski ist Übersetzer, Sozialarbeiter und Autor. 2015 erschien sein Kriminalroman „Wiosna – tödlicher Frühling“.