Guido Wekemann, Gastautor / 17.07.2022 / 10:00 / Foto: Thomas Edwards / 9 / Seite ausdrucken

Mit Angst beherrscht, wenn es die große Mehrheit zulässt

Der Umgang mit Kranken und Schutzbefohlenen zeigt, wie schnell sich eine Zwangsherrschaft verfestigen kann, wenn sich der Teppich der „richtigen Einstellung“ ausbreitet und von Institutionen und Bevölkerung übernommen wird. 

Vor einem halben Jahr erschien der dritte Band der Erinnerungen von Ludwig Zimmermann. Dieses sehr umfangreiche Werk mit dem Titel „Das katholische Oberschwaben im Nationalsozialismus – Zwischen Begeisterung, Anpassung und Widerstand“ geht weit über die private Erinnerung hinaus und bearbeitet mit großer Sorgfalt die zugänglichen historischen Quellen.

Im Vorwort zum Buch erfährt der Leser den Grund und familiären Hintergrund des Autors zu seinem Antrieb, die Geschichte der Heimat gründlich aufzuarbeiten. Aus der persönlichen Erfahrung seiner Familie, die die Herrschaft der nationalen Sozialisten in der ganzen Bandbreite durchgemacht und durchlitten hatte, schöpft er die Kraft, das schwere Tuch des Schweigens und Vertuschens anzuheben und durch beständiges Hinterfragen Klarheit und Aufklärung zu erreichen. Es waren jahrzehntelange Recherchen, die diesem Buch vorausgingen: die Quellen in staatlichen und privaten Archiven, Zeitungen, amtlichen Dokumenten zu ergründen und bei Zeitzeugen das zu erfahren, was in offiziellen Darstellungen ausgeblendet wurde und bewusst unerwähnt blieb.

In elf übersichtlich geordneten Kapiteln vermittelt Ludwig Zimmermann, wie die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSDAP in alle Bereiche der Gesellschaft eindringt und sich auch des Persönlichen, die Grundrechte ausschaltend, bemächtigt. Dieser Marsch durch die Institutionen gelingt der Nazipartei in rasender Eile. Ein Bestreben, das jeder Gewaltherrschaft innewohnt.

Wie es dazu kommt, führt der Autor an mehreren Beispielen oberschwäbischer Dörfer, Städte und Oberämter (Landkreise) an – ausführlicher dort, wo er durch seinen Beruf als Dorflehrer in die örtlichen Nachkriegsverhältnisse Einblick hat.  

Dieses Buch verbleibt nicht im Ungefähren, das man halt mehr oder weniger zur Kenntnis nimmt oder nach mehr als zwei Generationen verharmlosend mit „das war halt so“ abtut. Zimmermann, der überzeugende Lehrer, erreicht mit seinem 439 Seiten umfangreichen Buch mehr als akademische Abhandlungen der Geschichte. Er zählt nicht nur die mehr oder weniger bekannten Fakten auf, sondern lässt den Leser auf die Personen blicken, nicht nur auf die Täter. 

In dieser Dokumentation dem Vergessen entrissen

Viel mehr: Die Geschundenen und Verstümmelten, die Entrechteten, die Gemordeten werden in dieser Dokumentation dem Vergessen entrissen. Man wird das Buch nicht vom Anfang bis zum Ende lesen wie einen Roman. Für den Schreiber dieser Zeilen ist es ein Nachschlagewerk zur Geschichte seiner Heimat. 

Das Buch gibt auf die Frage, wie sich eine Gesellschaft handstreichartig in einen Unrechtsstaat wandeln kann, keine einfache Antwort. Der Historiker, der diesen Zeitabschnitt der Regionalgeschichte wiedergibt, vermittelt dem Leser einen Blick auf eine gespaltene Gesellschaft, die damals noch konfessionell gefestigt schien. 

Der Katholik Zimmermann bleibt, wie im Titel angekündigt, im katholisch dominierten Oberschwaben. Insbesondere die Schilderung der Auseinandersetzung des Bischofs von Rottenburg, Joannes Baptista Sproll, mit den Nationalsozialisten lässt durchblicken, dass der „Bekennerbischof“, der bei Großveranstaltungen die Jugend und junge Erwachsene für Freiheit in Glaubenstreue bestärken konnte, im eigenen Klerus nicht uneingeschränkte Unterstützung fand. Für die Machthaber war der Bischof ein Hemmnis und musste seine Diözese verlassen. 

Der Historiker Zimmermann weist mit Bestimmtheit auf das Versagen der Institution Katholische Kirche und des Episkopats hin, der zu keiner Zeit die Loyalität zum nationalsozialistischen Regime aufgekündigt hat (S. 217).

In einem Kapitel verlässt der Autor Oberschwaben und ruft den politischen Umbruch im katholisch geprägten Ellwangen in Erinnerung. Dort können sich die braun und schwarz Uniformierten gegen den Widerstand aus den Kirchengemeinden nicht sofort durchsetzen. 

Im Detail beschreibt der Autor die Schwierigkeiten und kleinen Erfolge des Widerstands und auch dessen Scheitern. Er lässt den Leser eintauchen in eine Zeit, in der Einzelne sich widersetzten und hebt diejenigen heraus, die versuchten, für die Schwächsten das Schlimmste zu verhindern. Beispiele aus der Behindertenbetreuung machen deutlich, welche seelischen Belastung Betreuer tragen, denen es nicht gelingt, den Abtransport ihrer Schützlinge nach Grafeneck und den dortigen Massenmord zu verhindern.

Das Buch holt die Geschundenen und Gemordeten in die Erinnerung zurück, es nennt ihre Namen, ihre Herkunft und die Orte, aus denen sie auf Anweisung der Gesundheitsbehörden zur Vernichtung abgeholt wurden. 

Mit stillschweigender Duldung durch die Mehrheitsgesellschaft

Im Einzelnen werden im Buch die Funktionäre des Gesundheitswesens und der Ämter für Volksgesundheit genannt. Unausgesprochen erscheinen sie als Stützen des Regimes, das Krankheit, Behinderung oder die Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe zum Anlass nimmt, mit Hilfe der Ordnungsmacht die Vernichtung durchzusetzen. Die Leiter der Ämter für Volksgesundheit sind Ärzte mit Funktionen in der Partei, die über Leben und Tod entscheiden, nicht im Verborgenen, mit stillschweigender Duldung durch die Mehrheitsgesellschaft.

Beispielhaft schildert Ludwig Zimmermann das Schicksal von Sophie Gebhardt, an die er sich aus seiner Schulzeit an der Lehreroberschule Saulgau erinnert. Sie war Hebamme und sollte auf Anweisung, wie alle Beschäftigen in den Heilberufen und in den Schulen, Kinder mit Auffälligkeiten oder möglichen Behinderungen an die Gesundheitsämter melden. Dieser Anordnung widersetzt sich die Hebamme stillschweigend. Der Kreisleiter und Arzt Dr. med. Erich Waizenegger belegt Sophie Gebhardt mit Berufsverbot. Verarmt und auch nach der Naziherrschaft von der Saulgauer Bevölkerung gemieden, ist sie dem Verfasser in Erinnerung.

Dr. Waizenegger und andere parteipolitisch fest gefügte Ärzte aus Oberschwaben, die auch die Vernichtungsmaschine in Osteuropa in führenden Positionen antrieben, holt der Autor aus dem Vergessen- und Verschweigenwollen und erinnert an die Versäumnisse einer angemessenen juristischen Aufarbeitung. 

Den im Buch belegten Auseinandersetzungen Einzelner mit dem Regime schwingt die große Masse der Begeisterten und Angepassten und auch der im Stillen Leidenden immer mit. Bei dieser umfassenden Zusammenstellung bekommt auch beim Rezensenten die Jugendfrage an Eltern und Großeltern, wie das alles möglich war, wieder Aktualität. Die einfache Antwort von vor über 60 Jahren „Da warst du machtlos und hättest dich in Lebensgefahr gebracht“ konkretisiert das Buch auf eindrückliche Art und Weise: Überall, in allen Lebensbereichen bestimmen Parteifunktionäre und Parteimitglieder das Gesellschaftliche und auch das Private. Der Gewaltherrschaft geht der Marsch durch die Institutionen voran. Immer. Ämter werden nicht nach fachlicher Eignung, sondern entsprechend ideologischer Zuverlässigkeit vergeben und besetzt.

Ludwig Zimmermann schließt sein umfassendes Werk in einer „Schlussbetrachtung mit Hinweisen auf Forschungslücken“ ab. Dieser letzte Abschnitt seines Buches weist auf die wissenschaftliche Gründlichkeit des Autors hin und begegnet dem vorschnellen Eindruck einer katholischen Einseitigkeit.     

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Leserpost

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Dr. Andreas Kleemann / 17.07.2022

Für die an der NS-Regionalgeschichte Oberschwabens Interessierten noch eine weitere lesenswerte Lektüre-Empfehlung: Der Sammelband “Ravensburg im Dritten Reich”. Auch dieses Werk hat eine interessante Wirkungsgeschichte, die über die Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württemberg dokumentiert ist.

Rudolf Dietze / 17.07.2022

Es sind wenige Dokumente die mir überkommen sind aus jener Zeit. Der Ahnenpass, die Fotoalben, die Fotos vom Untergang einer Jugend, Fotos voller Kreuze, aber auch die Grabrede meiner Großmutter, die zeigt einen katholischen Pfarrer, der 1938, der den Widerspruch zwischen der neuen (damaligen) Zeit und der Kirche betont und versucht eine Tür zu Gott zu öffnen. Seine Worte sind eine Gratwanderung, wie vieles für andere Zeitgenossen eine Gratwanderung war, wenn sie nicht der Ideologie anhingen. Verblendung gab es immer und wird immer neu in Gehirne transportiert. Gestern sah ich ‘Avatar’ schöne Bilder aber die Botschaft. Es ist traurig, zu sehen, dass die Bibel, nein, die Kirche ihre Kraft verliert, sich zu wenig am Wort orientiert.

Peter Sticherling / 17.07.2022

Es war Rudi Dutschke, der 1967 den „Marsch durch die Institutionen“ als eine strategische Methode verkündete, um langfristig linksideologische Ziele zu erreichen und letztlich Macht zu erlangen. Und heute sehen wir, wer durch diese Methode zur Regierungsmacht gelangt ist. Auch wenn dieser Begriff des Marsches durch die Institutionen damals nicht bekannt war, de facto aber sind auch die Nazis, wörtlich: die Nationalen Sozialisten, auf diese Weise an die Macht gekommen.

Michael Hinz / 17.07.2022

Willkür, Unterwanderung, Gleichschaltung, Zensur, Phobokratie, Denunzinaton, Drohungen, Spaltung, Gewalt. Die alten immer gleichen Methoden: Willkommen in der Gegenwart.

Gudrun Meyer / 17.07.2022

Das alles konnte geschehen, “weil sie damals so waren, wie ihr heute seid” (Henryk Broder). Damit ist das Thema zwar erst angerissen, aber mit dieser Tatsache ist das Wichtigste genannt, das man wissen muss, um sich überhaupt mit der Geschichte des NS zu befassen und dabei über das Niveau des Nachplapperns oder gar der (linken) SA-Schlagworte hinauszukommen.

Werner Arning / 17.07.2022

Menschen aus einer traditionell kollektivistischen Gesellschaft sind „als Gemeinschaft“ leichter verführ- und manipulierbar als Menschen aus traditionell individualistisch geprägten Gesellschaften. Der Gruppenzwang, die unablässige Propaganda, der Glaube, dem Richtigen, dem Guten zu folgen, so wie es doch „alle“ ringsherum tun, bewirkt diese Anpassung bei völliger Identifikation mit den propagierten Zielen. Oberflächliche Identifikation etwa mit der katholischen Kirche hält dieser Beeinflussung nicht stand. Menschen, die hingegen mit Herz und Seele gläubig sind, mögen der Manipulation widerstehen. Ihr tiefer Glaube widersetzt sich und lässt die Unvereinbarkeit des Glaubens mit der Ideologie und bestimmten eingeforderten Handlungen zu offensichtlich werden. Dieses Gefühl der Unvereinbarkeit mag im Fall der Hebamme oder des Bischofs gegolten haben, in den allermeisten Fällen, auch unter Würdenträgern, greift dieser „Schutzwall“ des Glaubens wahrscheinlich nicht. Damit er „greift“, muss bei dem Betreffenden wohl die Überzeugung vorliegen, dass die Seele unsterblich ist, dass das Bewahren der Integrität der Seele wichtiger ist als die mögliche frühzeitige Beendigung des irdischen Lebens oder sonstige erlittenen Nachteile. Da es wohl nur wenige Menschen gibt, die hiervon zutiefst überzeugt sind, gibt es auch nicht so viele „Helden“. Dass diese „Helden“ sich selbst nicht als Helden fühlen, darauf braucht nicht extra hingewiesen werden. Demut ist unvereinbar mit Heldentum.

Thomas Szabó / 17.07.2022

Ich wette selbst der Bundespräsident traut sich nicht öffentlich auszusprechen wie viele Geschlechter es gibt! Politiker, Prominente, Wissenschaftler… was hätten all diese selbsternannten antifaschistischen Widerstandskämpfer in der Nazizeit getan?

H. Krautner / 17.07.2022

“Mit Angst beherrscht, wenn es die große Mehrheit zulässt”                    Die Politiker und ihre Zuflüsterer und ihre Komplizen haben es sehr einfach, ihre Untertanen zu führen, denn das Instrument Angst funktionert problemlos. Angst vor dem Coronatod, Angst vor dem Klima, und jetzt sogar - es ist unfassbar - Angst vor herrlichem Sommerwetter. Es unglaublich, was die Menschen mit sich machen lassen.          Dabei müssten sie doch in erster Linie Angst vor diesen Politikern und deren Umfeld haben.

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